I. Herrmann: L’humanitaire en questions

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Titel
L’humanitaire en question. Réflexions autour de l’histoire du Comité international de la Croix-Rouge


Autor(en)
Herrmann, Irène
Erschienen
Paris 2018: Éditions du CERF
Anzahl Seiten
169 S.
von
Esther Möller, Institut für Kulturwissenschaften, Universität der Bundeswehr München

Dass das Buch von Irène Herrmann, Professorin für die transnationale Geschichte der Schweiz in Genf, aus einem Vortrag heraus entstanden ist, merkt man ihm im besten Sinne an: Es zeichnet sich durch analytische Tiefe und historische Differenziertheit aus, ist zugleich sehr lesbar geschrieben und fordert zum Nachdenken heraus.

In der Einleitung erläutert die Autorin die zentrale Frage, wie sich das grosse aktuelle gesellschaftliche und wissenschaftliche Interesse am Humanitären anhand der Motive und Haltungen der involvierten Akteure – also sowohl der Empfänger von Hilfe als auch deren Geber, Spender und Unterstützer – erklären lässt. Indem Herrmann zugleich auf die Traditionen der Hilfe für andere in den drei Buchreligionen und auf die Vorläufer der Rotkreuzidee in Russland und Grossbritannien hinweist, macht sie auch auf die transnationalen Dimensionen der Entwicklung der humanitären Idee aufmerksam – auch wenn im Zentrum ihres Buches das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) steht.

Das erste Kapitel widmet sich unter dem Titel «Die Entstehung des modernen Humanitarismus» der Zeit von der Gründung des IKRK 1863 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Herrmann macht deutlich, dass eine Vielzahl von Akteuren für den Erfolg des IKRK verantwortlich waren und von ihm profitiert haben: Während die protestantische Genfer Bourgeoisie darin eine Möglichkeit sah, ihre in der Revolution von 1846 verlorene politische Macht wiederzuerlangen, konnte die Schweizer Konföderation durch die Adoption des Neutralitäts-Diskurses ihre militärische Nicht-Intervention rechtfertigen und sich zusätzliche moralische und politische Glaubwürdigkeit sichern. Über die Schweizer Grenzen hinaus waren auch viele Nationalstaaten an einer Idee interessiert, die ihre Angst vor neuen Kriegen und «unzivilisierten» Staaten verringerte und gleichzeitig nicht im Gegensatz zu nationalistischen oder gar imperialen Bestrebungen stand. Was den Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Humanitarismus betrifft, scheint die Autorin aber nicht so weit gehen zu wollen wie beispielsweise Alan Lester und Fae Dussart, die den Kolonialismus als Grundstein des Humanitarismus ansehen.1

«Die Politik des Humanitären» ist das zweite Kapitel überschrieben, in dem Herrmann die Zeit zwischen 1914 und 1939 behandelt. Inhaltlich konzentriert sie sich auf die Frage der humanitären Konkurrenz, insbesondere zwischen dem IKRK und der 1919 unter dem Einfluss des Amerikanischen Roten Kreuzes gegründeten Liga der Rotkreuzund Rothalbmondgesellschaften. Anhand dieser von der Forschung bisher wenig aufgearbeiteten Rivalität verdeutlicht die Autorin erneut, dass humanitäre Institutionen nie frei von spezifischen Interessen waren, dass dieses den humanitären Aktivitäten selbst aber durchaus nicht abträglich sein musste.

Um «Die humanitäre Praxis oder die Kunst des Dilemmas» geht es im dritten Kapitel, das (mit leichter zeitlicher Überschneidung zu Kapitel zwei) die Periode zwischen 1930 und 1945 in den Blick nimmt. Auch hier gelingt es der Autorin, anhand eines konkreten historischen Beispiels weiterführende Fragen nach dem Verhältnis von Humanitarismus und (extremen) politischen Strömungen erörtern. Ausgehend von der oft kritisierten Haltung des IKRK zum Dritten Reich und dem Besuch des IKRK-Delegierten Maurice Rossel im Konzentrationslager Theresienstadt 1944 führt Herrmann die vielfältigen Grenzen des Humanitären auf praktischer, mentaler und abstrakter Ebene vor Augen. Besonders erhellend sind ihre Ausführungen zu den «mentalen Grenzen» («limites mentales ») des IKRK, die sich beispielsweise in einer besonderen Wertschätzung des Protestantismus widerspiegelten, welche bei manchen Mitgliedern bis zum Antisemitismus reichte und sich in vielen Fällen mit dem im IKRK sehr stark vertretenen Antikommunismus verband. Abschliessend stellt Herrmann noch einmal fest, dass die Kritik am IKRK nach 1945 teils berechtigt, teils aber auch übertrieben gewesen sei (das gelte auch mit Blick auf den Regisseur Claude Lanzmann und seinen Film über Rossel) und man das IKRK eher als Sinnbild für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts sowie für die Unfähigkeit der Menschen, diese zu verhindern, verstehen solle.

tischen Konzepts, das ihr zufolge die hohe Anziehungskraft des Humanitären in der Gesellschaft überzeugend zu erklären vermag. Um das Humanitäre noch stärker relational zu fassen, stellt sie es als absolut positives magnetisches Konzept dem Antisemitismus als absolut negativem Konzept entgegen. Auf diese Weise kann die Autorin zeigen, dass magnetische Konzepte nicht nur solche sind, die von den meisten Menschen geteilt werden, sondern auch solche, die eine heftige Reaktion hervorrufen.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Band sowohl für Expertinnen und Kenner der Schweizer und humanitären Geschichte als auch für ein breites Publikum lesenswert ist, weil er relativ bekannte Beispiele mit historischer Detailkenntnis und analytischer Finesse aufarbeitet. Auch wenn von Anfang an deutlich wird, dass der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem IKRK liegt, bietet die Autorin auch Blicke über die Schweizer und sogar westeuropäischen Grenzen hinaus, insbesondere auf Russland, was sich durch ihre Expertise in russischer Geschichte erklärt. Vergleiche mit anderen nicht-westlichen Fallstudien wie die Entwicklung des Kriegsgefangenen-Konzepts im Osmanischen Reich2 wären zwar interessant gewesen, konnten im Rahmen des Bandes aber nicht geleistet werden. Die hier aufgeworfenen Fragen darüber hinaus auch aus einer globalgeschichtlichen Perspektive zu untersuchen, wäre sicherlich lohnenswert.

1 Siehe z. B. Alan Lester, Fae Dussart, Colonization and the Origins of Humanitarian Governance. Protecting Aborigines across the Nineteenth-Century British Empire, Cambridge 2014.
2 Siehe z. B. die aktuelle Veröffentlichung von Will Smiley, From Slaves to Prisoners of War. The Ottoman Empire, Russia and International Law, Oxford 2018.

Zitierweise:
Esther Möller: Irène Herrmann: L’humanitaire en questions. Réflexions autour de l’histoire du Comité international de la Croix-Rouge, Paris: Les Éditions du Cerf, 2018 Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 471-473

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 471-473

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